Higgs-particle detected?

Higgs-Boson gesichtet?

Zwei der vier Detektoren des Elektron-Positron-Collider LEP am Cern lieferten Hinweise auf jenes lange gesuchte Teilchen, das der Materie möglicherweise ihre Masse verleiht.

Von Georg Wolschin

Als ein internationales Team von 54 Physikern am amerikanischen Fermilab am 20. Juli dieses Jahres den ersten direkten Nachweis des Tau-Neutrinos bekanntgab, hatten die Teilchenphysiker Grund zum Feiern: Das letzte noch fehlende Mitglied aus dem bekannten Zoo der zwölf Elementarteilchen (drei "Familien" zu je zwei Quarks und Leptonen) war entdeckt. In mühevoller dreijähriger Versuchsauswertung hatten die Fermi-Forscher die Sekundärteilchen-Spuren von vier dieser Neutrinos (Leptonen aus der dritten Familie) in Emulsionsplatten identifiziert.

Insgesamt wurde damit das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik geradezu phänomenal bestätigt. Doch die Freude darüber ist nicht ganz ungetrübt. Das empirisch gesicherte Standardmodell hat nämlich eine mißliche Lücke: Es liefert keine Erklärung für die Masse der Elementarteilchen. Dafür benötigen die Theoretiker nach derzeitigem Stand der Dinge mindestens ein weiteres Boson, wie Teilchen mit ganzzahligem Eigendrehimpuls nach dem indischen Physiker Satyendra Nath Bose genannt werden, der fundamentale Eigenschaften solcher Partikel schon 1924 erschlossen hatte. Das zusätzliche Boson war 1964 von dem Edinburgher Theoretiker Peter Higgs und anderen Physikern postuliert worden. Es soll insbesondere dafür sorgen, dass das neutrale Z-Boson und die geladenen W-Bosonen _ die Austauschteilchen, welche die schwache Wechselwirkung vermitteln _ ihre beobachteten großen Massen von 91,2 beziehungsweise 80,4 Milliarden Elektronenvolt erhalten. Aber auch die Massen des nur 510 998,9 Elektronenvolt "schweren" Elektrons und all der anderen Grundbausteine der Materie beruhen nach dieser Theorie auf dem "Higgs-Feld" und dem zugehörigen Feldteilchen, eben dem Higgs-Boson.

Die Masse eines Teilchens wird dabei umso größer, je intensiver es mit dem Higgs-Feld wechselwirkt. In gewisser Weise erinnert dieses Feld damit an den alles durchdringenden, chemisch oder physikalisch nicht nachweisbaren "Äther", der im 19. Jahrhundert als Trägermedium der elektromagnetischen Wellen angenommen wurde _ analog zur Luft als Träger des Schalls. Die amerikanischen Wissenschaftler Albert Abraham Michelson und Edward Morley widerlegten diese Vorstellung 1881 mit dem Nachweis, daß die Lichtgeschwindigkeit nicht von der Bewegung der Erde durch einen _ wie immer gearteten _ Äther abhängt. Dieses Resultat wurde 1905 zur entscheidenden Grundlage der speziellen Relativitätstheorie.

Die Idee des Higgs-Feldes ist dagegen bis heute theoretisch sehr attraktiv geblieben _ zumal es bisher kein überzeugenderes Konzept dafür gibt, wie Masse zustande kommt. Das Higgs-Boson ist deshalb zu einer Art Gral der experimentellen Teilchenphysiker avanciert: Die Suche danach bildet eines der Hauptmotive für die Konzeption und den Bau noch leistungsfähigerer Teilchenbeschleuniger (siehe "Der große Hadronen-Collider", Spektrum der Wissenschaft 9/2000, S. 69).

Nun allerdings glauben einige der Physiker am Europäischen Teilchenlabor Cern in Genf, im elften Betriebsjahr des großen Elektron-Positron- Beschleunigers Lep sozusagen den Mantelzipfel dieses bisher nicht faßbaren Teilchens erwischt zu haben. Ursprünglich sollte Lep vor allem zur Untersuchung des schon erwähnten Z-Bosons dienen. Bis 1995 war seine Schwerpunktsenergie _ die Summe der Energien des Elektronen- und Positronenstrahls _ deshalb auf 91,2 Gigaelektronenvolt (GeV) eingestellt, was der Masse des Z- Teilchens entspricht. Insgesamt analysierten die Physiker am Cern mehr als vier Millionen Z-Zerfälle. Ein Hinweis auf das vorübergehende Auftreten eines Higgs-Boson fand sich dabei nicht.

Seit 1995 konnte die Energie der Elektronen- und Positronenstrahlen am Lep nach und nach mehr als verdoppelt werden _ bis auf 101 GeV im Jahre 1999, was einer Schwerpunktsenergie von 202 GeV entspricht. Aber immer noch fand sich kein Anzeichen für das langgesuchte Teilchen. Es musste der Datenanalyse zufolge schwerer als 107,7 GeV sein; denn es entsteht stets zusammen mit einem Z-Boson, sodass mindestens das Energieäquivalent für die Ruhemasse beider Teilchen im Beschleuniger bereitzustellen ist. Aus anderen Überlegungen und Experimenten weiss man zudem, dass das Higgs-Boson nicht schwerer als etwa 170 GeV sein kann.

Im April dieses Jahres gelang es dann, die Schwerpunktsenergie von Lep noch einmal auf bis zu 209 GeV zu erhöhen. Diese Steigerung mag geringfügig scheinen, war aber möglicherweise entscheidend; denn kurz vor der Ende September vorgesehenen Schließung des Beschleunigers, der dem neuen Hadronencollider LHC weichen wird, machte in der Tagespresse eine aufsehenerregende Erfolgsmeldung Schlagzeilen: In zwei der vier Detektoren von Lep hätten sich möglicherweise Spuren des Higgs- Bosons gezeigt. So fand das Team, das die Signale von Aleph auswertet, im Juli und August bei 206,7 GeV Schwerpunktsenergie im Massenbereich von 110 bis 115 GeV drei Ereignisse, die sich nicht ganz mit dem erwarteten Untergrund der nach dem Standardmodell zu erwartenden Signale erklären lassen (Bilder) und möglicherweise unter Mitwirkung eines Higgs-Bosons zustande kamen. Analog trat im Detektor Delphi ein Überschuss in zwei so genannten 4-Jet-Ereignissen bei Teilchenmassen von 113,6 und 114,3 GeV auf. Für die Delphi-Ereignisse gibt es jedoch auch andere, aus dem Standardmodell bekannte Prozesse als mögliche Erklärung, die nicht auf dem Zerfall eines intermediären Higgs-Teilchens beruhen.

Die geringen Abweichungen vom Untergrund erlauben demnach noch keine statistisch abgesicherte Aussage, daß tatsächlich das Higgs-Boson gefunden wurde - es könnte sich auch nur um zufällige Schwankungen handeln. Die LEP-Wissenschaftler möchten jedoch nicht riskieren, sich kurz vor dem Abschalten des Beschleunigers womöglich eine fundamentale Entdeckung entgehen lassen. Deshalb empfahlen die wissenschaftlichen Gremien des Cern, Lep noch bis zum 2. November laufen zu lassen. Cern-Direktor Luciano Maiani folgte am 14. September dieser Empfehlung. Bis zum neuen Abschalttermin können die vier Lep-Experimente im Massenbereich um 113 GeV etwa doppelt so viele Daten wie bisher sammeln, so dass sich die statistische Wahrscheinlichkeit für die Echtheit des Signals deutlich verbessern lässt _ wenn es denn Bestand hat.

Sollte das der Fall sein, kommt die Leitung des Cern in einige Bedrängnis; denn weitere Verlängerungen der Lep-Strahlzeit brächten den Zeitplan für die Konstruktion des LHC im Lep-Tunnel ernsthaft durcheinander. Gewiss würden am LHC Higgs-Bosonen im fraglichen Massenbereich in großen Mengen erzeugt, wenn es sie tatsächlich gibt _ aber der neue Beschleuniger wird frühestens 2005 fertig sein, und bis dahin wären die fraglichen Teilchen mit Sicherheit bereits am verbesserten Tevatron-Collider des amerikanischen Fermilab nachgewiesen, der im kommenden Frühjahr wieder in Betrieb geht. Wie die Olympiade ist auch Wissenschaft nicht frei von internationalen Rivalitäten, und das jeweilige Publikum möchte seine "Sieger" feiern. Bisher ist beim Higgs-Boson jedoch nicht entschieden, ob es überhaupt welche gibt.

Bild 1: Vom Aleph-Detektor aufgenommenes Massenspektrum (schwarze Punkte) im Vergleich mit dem aus dem Standardmodell erwarteten Untergrund (Histogramm) ohne Higgs-Zerfälle. Bei Massenwerten um 113 GeV/c^2 zeigt sich ein leichter Überschuß, der möglicherweise auf den Zerfall eines intermediären Higgs-Bosons zurückgehen könnte. Um bessere Statistik zu erreichen, wurde die LEP-Strahlzeit zunächst bis 2. November verlängert.

Quelle: ALepH-Kollaboration /CERN

Bild 2: Die Ereignisstatistik für den Aleph-Detektor am Cern- Collider Lep für ein Signal/Untergrund-Verhältnis von 2 zeigt bei Massenwerten um 113 Gigaelektronenvolt (GeV/c^2) einen Überschuß (rot) gegenüber den Erwartungen laut Standardmodell ohne Higgs-Zerfälle (gelb): Gefunden wurden drei Ereignisse, während nur 0,3 auftreten sollten. Dieser Überschuß weist möglicherweise auf ein Higgs-Boson bei dieser Masse hin. Das Maximum im Untergrund bei 91,2 GeV rührt von den schon bekannten Z-Bosonen her. Schwarze Punkte kennzeichnen die Energien der registrierten Ereignisse.

Quelle: ALepH-Kollaboration /CERN

Bild 3: Der Teilchenschauer nach einem der drei Kollisionsereignisse im Aleph-Detektor, bei denen ein Higgs-Boson entstanden sein könnte, besteht aus vier Jets: Bündeln von Teilchen, die mit hohem Impuls annähernd in dieselbe Richtung davonstieben. Zwei davon (grün und blau gekennzeichnet) könnten von Zerfallsprodukten eines Higgs-Bosons herrühren, während die beiden anderen vermutlich von einem Z-Teilchen stammen.

Quelle: ALepH-Kollaboration /CERN

Bild 4:

"This is not exactly what theory predicted for the Higgs decay"

Quelle: Claus Grupen/Cern

Weitere detaillierte Literatur hat Christoph Rembser zusammengetragen.

Siehe Spektrum d. Wissenschaft 11/2000 für den gedruckten illustrierten Artikel

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