Perfekte Körper
Eine Reise durch die Welt kleinster geometrischer Strukturen
Von David Globig
Im antiken Griechenland war die Geometrie für das
Weltbild ganz entscheidend. Man glaubte, dass die vier
Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser aus winzigen
geometrischen Körpern bestehen. Heute haben wir zwar
eine etwas andere Vorstellung vom Aufbau der Welt, aber auch
in der modernen Wissenschaft spielen kleinste geometrische
Strukturen eine wichtige Rolle. Physiker nutzen sie, um
Licht auf ganz bestimmten Bahnen durch Kristalle zu leiten.
Chemiker setzen aus winzigen geometrischen Einheiten Kugeln
und andere Gebilde zusammen, die vielleicht eine völlig
neuartige Chemie ermöglichen. Und
Werkstoffwissenschaftler versuchen mit Hilfe der fraktalen
Geometrie die Eigenschaften von Autoreifen zu
verbessern.
Meine Damen und Herren, ich begrüße sie an
Bord des Intercity Euklid und wünsche ihnen eine gute
Reise. Möge keiner, der nicht der Geometrie kundig ist,
hier eintreten.
Sprecher: Holla.
Sprecherin: Keine Angst, diese Mahnung galt vor
rund 2.400 Jahren den Schülern der Akademie Platons.
Die Geometrie war für sein Weltbild und das seiner
Zeitgenossen ganz entscheidend. Platon schreibt etwa, dass
die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser aus winzigen
geometrischen Körpern bestehen: nämlich aus
Tetraedern, Würfeln, Oktaedern und Ikosaedern.
Gemeinsam mit einer fünften Figur, dem Dodekaeder, das
aus 12 Fünfecken besteht, nennt man diese Gebilde auch
platonische Körper.
Sprecher: Heute haben wir eine etwas andere
Vorstellung vom Aufbau der Welt. Aber kleinste geometrische
Strukturen spielen auch in der modernen Wissenschaft eine
wichtige Rolle. Tagtäglich arbeiten die Forscher mit
ihnen: in Physik, Chemie, Biologie und
Werkstoffwissenschaften.
Sprecherin: 1. Das Hexagon.
Man ziehe im Kreise A B C D E F einen Durchmesser A
D, verschaffe sich den Mittelpunkt G des Kreises und zeichne
mit D als Mittelpunkt und D G als Abstand den Kreis E G C H;
ferner ziehe man die Verbindungsstrecken E G, C G und diese
durch nach den Punkten B, F, und ziehe A B, B C, C D, D E, E
F, F A ...
Sprecherin: Oh je, Euklid. Ohne Stift, Lineal und
Zirkel hat man ja kaum eine Chance, den Anleitungen zu
folgen, die du in deinem Werk 'Die Elemente' gibst. Aber es
kommt tatsächlich ein Sechseck, ein Hexagon heraus.
Meine Damen und Herren, wir erreichen jetzt
Halle/Saale.
Sprecher: Am Stadtrand von Halle: das
Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik. Eine Form
von Mikrostrukturen, mit denen sich die Wissenschaftler hier
beschäftigen, sind Löcher - Milliarden winziger
Löcher, die sie in Silizium ätzen.
Sprecherin: Dabei ist vor allem die Geometrie
wichtig. Ordnet man solche Löcher nämlich in einer
ganz bestimmten Weise an, entsteht ein sogenannter
photonischer Kristall. Ein Gebilde mit erstaunlichen
optischen Eigenschaften. Photonische Kristalle können
die Lichtausbreitung in ihrem Inneren präzise
kontrollieren. Genau diese Fähigkeit reizt Forscher wie
Ralf Wehrspohn.
Ähnlich, wie man bei Halbleiter-Bauelementen
heutzutage den Elektronenfluss verändert, möchte
man gern das Licht kontrollieren, das Licht manipulieren,
das Licht beeinflussen. Dass es teilweise langsamer wird,
dass es um die Ecke geht, dass es Verstärkungseffekte
gibt. Das heißt, man möchte in erster
Näherung versuchen, mit dem Licht spielen zu
können. Man hat den Computerchip, da sind sehr, sehr
viele Millionen von elektronischen Transistoren drauf. Und
man möchte oft versuchen ein ähnliches System auch
für die Optik zu entwickeln.
Sprecher: Das wäre ein entscheidender
Schritt auf dem Weg zu optischen Computern, die statt mit
Elektronen mit Photonen, also mit Lichtteilchen und damit
wesentlich schneller arbeiten. Photonische Kristalle
könnten solche Rechner möglich machen.
Sprecherin: Wie echte Kristalle sind auch
photonische Kristalle aus Grundelementen aufgebaut, die sich
absolut regelmäßig wiederholen. Sie besitzen also
eine geometrische Struktur. Diese Struktur besteht aus
Löchern von nur einem Mikrometer, das heißt einem
tausendstel Millimeter Durchmesser. Die völlig
gleichmäßige Abfolge von Silizium und
luftgefüllten Löchern führt bei bestimmten
Licht-Wellenlängen zu Interferenzen.
Wenn man Interferenz-Effekte haben möchte,
muss man einen Kontrast, d.h. einen Unterschied zwischen der
Lichtausbreitungsgeschwindigkeit haben. Silizium hat in
Vergleich zu Luft eine um ein Drittel langsamere
Lichtgeschwindigkeit und erzeugt somit hohe Interferenzen
des Lichts.
Sprecher: Licht, das seitlich in den Kristall
gelangt, wird an dessen Struktur gestreut. Je nachdem,
welche Größe die Löcher haben und wie sie
angeordnet sind, löschen sich dabei bestimmte
Wellenlängen aus. Licht mit genau diesen
Wellenlängen kann sich im Kristall also nicht
fortpflanzen. Im Idealfall wird es vollständig
reflektiert.
Sprecherin: Und genau hier kommt die Geometrie
ins Spiel. Der Kristall funktioniert nämlich dann
besonders gut, wenn jedes Loch von sechs anderen
Löchern in Form eines Sechsecks, eines Hexagons,
umgeben ist.
Der Grund ist einfach, dass man gerne möchte,
dass in allen Richtungen des zweidimensionalen Kristalls die
Interferenzbedingung immer die gleiche ist. Was bestimmt die
Interferenzbedingung? Die Interferenzbedingung des Lichtes
wird bestimmt durch den Abstand der Löcher und durch
die Größe der Löcher. Nehmen wir mal an,
dass die Löcher alle gleich groß sind, so
möchte man eigentlich, dass der Abstand in alle
Richtungen der gleiche ist.
Sprecher: Das ist bei einem hexagonalen Gitter
der Fall. Mit einem Kristall, der kein Licht
hereinlässt, können die Forscher allerdings noch
nicht besonders viel anfangen. Schließlich wollen sie
das Licht ja auf bestimmten Bahnen durch den photonischen
Kristall hindurch leiten.
Sprecherin: Dazu müssen sie in das perfekte
Lochgitter Störungen einbauen. Etwa, indem sie eine
Reihe Löcher weglassen. In genau diesem schmalen Kanal
kommt es nicht zur Auslöschung, hier hat das Licht
freie Bahn. Nach rechts oder links kann es sich jedoch nicht
ausbreiten, denn dort ist die Gittergeometrie wieder
perfekt.
Sprecher: So entsteht eine Art optische
Leiterbahn im Silizium, mit der man Licht ohne Verluste
sogar um Ecken führen kann. Bei zweidimensionalen
photonischen Kristallen, also in der Ebene, funktioniert das
schon recht gut. Allerdings kann das Licht aus
zweidimensionalen Kristallen nach oben oder unten
'ausbrechen'. Die Physiker wissen aber schon einen Weg, wie
sie das verhindern können.
Wir arbeiten an einer mehr oder weniger einmaligen
Methode, aus tiefen Löchern durch eine Modulation des
Porendurchmessers nicht zwei- sondern dreidimensionale
Kristalle herzustellen.
Sprecherin: Von der Geometrie her sind die
komplizierter. Die Löcher sollen wie perfekt gestapelte
Kugeln aussehen. Für Ralf Wehrspohn und seine Kollegen
vom Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik eine
große Herausforderung, wenn sie die Löcher in
Silizium ätzen.
Typischerweise, wenn man bohrt, kann man eigentlich
nur ein gerades Loch bohren. Bohrt man aber elektrochemisch,
d.h. man hat Strom und Chemie, so kann man den Strom
fluktuieren lassen. D.h. ich kann den Strom mal
erhöhen. Und der Strom ist nun proportional zum
Lochdurchmesser. D.h. was wir machen: wir variieren den
Strom sinusförmig während des Ätzens und
können somit die Löcher größer machen
oder kleiner. Und da die Löcher wachsen in die Tiefe
die ganze Zeit, ergibt sich also ein moduliertes Profil,
d.h. kann man sich vorstellen wie Luftlöcher an einer
Schnur aufgereiht.
Sprecherin: Bis sich mit dieser Technik
tatsächlich dreidimensionale photonische Kristalle
herstellen lassen, dürfte noch eine Weile vergehen.
Sprecherin: 2. Oktaeder und Pentagon - kommen
natürlich auch bei Euklid vor.
Ein Oktaeder ist der Körper, der von acht
gleichseitigen Dreiecken umfasst wird. Man lege den
Durchmesser A B einer gegebenen Kugel hin, halbiere ihn in
C, zeichne über A B den Halbkreis A D B, errichte C auf
A B die Senkrechte C D und ziehe D B. Ferner lege man das
Quadrat E F G H hin, dessen Seiten alle = D B ...
Sprecherin: Mann, Euklid ...
Verehrte Fahrgäste, wir erreichen Bielefeld.
Sprecher: Das Institut für Anorganische
Chemie der Universität Bielefeld. Hier arbeitet
Professor Achim Müller ebenfalls mit winzigen
geometrischen Strukturen. Er ist einer der weltweit
führenden Spezialisten, wenn es darum geht, aus
einfachen Grundelementen vergleichsweise große
Nano-Objekte zusammenzusetzen. Während gewöhnliche
anorganische Moleküle nur eine Ausdehnung von einigen
Zehntel Nanometern haben, messen seine Rekord-Gebilde gleich
mehrere Nanometer.
Sprecherin: Als 'Bausteine' dienen dem
Bielefelder Forscher z.B. Oktaeder aus Molybdän- und
Sauerstoffatomen. Ein Oktaeder sieht aus wie eine
gespiegelte Pyramide. Es zeigt also gleichzeitig eine Spitze
nach oben und eine nach unten. Bei den Oktaedern, mit denen
Achim Müller experimentiert, sitzt auf jeder der sechs
Ecken ein Sauerstoffatom, das Molybdänatom steckt in
der Mitte.
Sprecher: Um solche Einheiten herzustellen,
genügt relativ simple Chemie. Und damit aus den
Molybdän-Sauerstoff-Oktaedern größere
Gebilde werden, man spricht auch von Clustern, brauchen die
Forscher ebenfalls kaum nachzuhelfen. Die winzigen Oktaeder
haben nämlich die Fähigkeit, sich unter bestimmten
Bedingungen quasi von allein an ihren Ecken, Flächen
und Kanten zusammenzulagern. Achim Müller und seinen
Kollegen geht es allerdings nicht darum, irgendwelche
zufälligen Cluster zu erzeugen.
Wir wollten eine Kugel, ein ballförmiges
Gebilde synthetisieren. Und der Weg dazu führte auf
Biochemie-Lehrbücher. Und man erkannte eindeutig, dass
die Natur ganz gezielt so vorgeht: sie bildet
sphärische Viren, indem sie mit pentagonalen Einheiten
spielt.
Pentagon - Man lege ein gleichschenkliges Dreieck F
G H hin, in dem jeder der beiden Winkel bei G, H doppelt so
groß ist wie der bei F, und beschreibe dem Kreise A B
C D E ein mit dem Dreieck F G H winkelgleiches Dreieck A C D
so ein, dass ...
Sprecherin: Wie dem auch sei, die Bielefelder
Wissenschaftler spielen - nach dem Vorbild der Natur -
ebenfalls mit pentagonalen, sprich fünfeckigen
Elementen. Die sorgen übrigens auch bei einem
Fußball für die runde Form. Würde man
ausschließlich sechseckige Lederteile
zusammennähen, bekäme man nur eine ebene
Fläche.
Sprecher: Die Forscher haben das Glück,
dass ihnen Molybdän und Sauerstoff auch fünfeckige
Bausteine liefern. An deren Kanten lagern sich wiederum
Oktaeder an - und bilden so ein größeres
Fünfeck. Damit aber tatsächlich Kugeln entstehen,
helfen Achim Müller und seine Kollegen etwas nach und
geben die Form durch ein sogenanntes Templat vor. In diesem
Fall ist es ein kugelförmiges Ion, das die
Verknüpfungen steuert und um sich herum eine
kugelförmige Schale bildet.
Sprecherin: In Bielefeld sind die
Wissenschaftler unter anderem daran interessiert, was im
Inneren von relativ großen Kugeln passiert. Solche
Kugeln lassen sich nicht mit fünfeckigen Elementen
allein konstruieren. Es sind zusätzliche Abstandhalter
nötig, die die Fünfecke ein Stück
auseinanderschieben. Diese Abstandhalter bestehen aus
Metallatomen. Da die fünfeckigen Elemente sich nicht
mehr berühren, entstehen Kugeln mit 20 winzigen
Öffnungen, also Poren.
Sprecher: Eine Idee ist es nun, über diese
Poren etwas in die Kugeln hineinzugeben und die
Öffnungen dann zu verschließen. Tatsächlich
ist es den Bielefelder Forschern bereits gelungen,
sämtliche Löcher in ihren Kugeln sauber zu
'stopfen'.
Man braucht also praktisch ein Substrat, was
komplementär genau in den Hohlraum passt. Und dieses
Substrat haben wir gefunden. Der Chemiker nennt es
Guanedinium-Kation. Es gibt genau 20 Poren. Und wir waren in
der Lage, 20 von diesen Substraten, die genau in den
Hohlraum passen, einzufügen. Das ist also auch eine
Sensation, dass praktisch 20mal an einem Gebilde Poren
geschlossen werden.
Sprecher: Bislang waren die Chemiker schon
zufrieden, wenn sie ein einziges Ringsystem, also EINE Pore
mit einem Substrat schließen konnten. Doch die
Bielefelder Forscher haben noch eine weitere Sensation zu
vermelden. Kürzlich entdeckten sie, dass
Wassermoleküle in der Kugelmitte eine
ungewöhnliche Struktur bilden, sobald die Löcher
dicht sind.
In dem Augenblick, wo ich die Poren schließe,
tut sich etwas ganz Entscheidendes im Innern der Kugel. In
der Art, dass jetzt die ordnende Kraft, steuernde Kraft auf
die Moleküle praktisch bewirkt wird durch die
hochsymmetrische Kugelschale. Und das Faszinosum dabei ist
folgendes: die Wassermoleküle ordnen sich in mehreren
hochsymmetrischen platonischen und archimedischen
Körpern an.
Sprecher: Welche Kräfte es im einzelnen
sind, die die Wassermoleküle dazu bewegen, ist den
Forschern noch nicht klar. Achim Müller glaubt aber,
dass die Entdeckung auch so für Furore sorgen wird.
Denn das, was in der Kugel passiert, ähnelt im
verkleinerten Maßstab Vorgängen in lebenden
Zellen. Zellen reagieren ebenfalls auf Signale von
außen mit Veränderungen in ihrem Inneren.
Sprecherin: Über die perfekten
geometrischen Formen, in denen sich die Wassermoleküle
in der Kugel anordnen, hätten sich die alten Griechen
bestimmt gefreut.
Im Zentrum: ein Wassercluster, gebildet aus 20
Wassermolekülen in Form eines Dodekaeders. Aufgelagert
praktisch ein weiteres Dodekaeder, ebenfalls natürlich
gebildet aus 20 Wassermolekülen. Und aufgelagert
über diesen beiden: ein komplexerer Cluster, ein sog.
archimedischer Körper, gebildet durch 60
Wassermoleküle.
Sprecherin: 3. - Kugeln, Blasen und
Flächenkristalle
Eine Kugel ist der Körper, der umschlossen
wird, wenn ein Halbkreis, während sein Durchmesser fest
bleibt, durch Herumführen wieder in dieselbe Lage
zurückgebracht wird, von der er ausging.
Sehr geehrte Damen und Herren, nächster Halt
ist Golm.
Sprecher: Golm in der Nähe von Potsdam. In
den letzten Jahren ist hier ein Wissenschaftspark mit
mehreren Forschungseinrichtungen entstanden. Seit 1999
gehört das Max-Planck-Institut für Kolloid- und
Grenzflächenforschung dazu. Die geometrischen
Strukturen, an denen hier geforscht wird, haben keine Ecken
und Kanten.
Das hier ist ein Torus, der innen ein Loch hat. Und
das ist eine Art gebogener Zylinder.
Sprecher: Rumiana Dimova, Wissenschaftlerin am
Golmer Max-Planck-Institut, beobachtet die rundlichen
Körper, unterschiedlich geformte Bläschen, mit dem
Mikroskop.
Wenn sie einmal geformt sind, dann sind sie stabil.
Der Formungsprozess ist nicht kontrollierbar. Es kann
verschiedene Faktoren geben, die ihn beeinflussen und
unterschiedliche Formen der Vesikeln verursachen. Hier haben
wir eine Art Kugel. Gleich sehen Sie eine Formänderung,
die durch Änderung der Temperatur hervorgerufen wird.
Sprecher: 5 Grad mehr und innerhalb von Sekunden
wird ein zylindrischer Körper flacher, seine Enden
biegen sich zueinander hin, berühren sich
schließlich. Plötzlich sieht das Ganze aus wie
ein Miniatur-Donut.
Sprecherin: Aber auch völlig andere
Strukturen sind möglich. Sie erinnern etwa an Seesterne
oder dicke Knöpfe.
Sprecher: Dass sich solche Körper formen
können, liegt daran, dass sie aus Lipiden bestehen.
Lipide sind nämlich sogenannte amphiphile
Moleküle. Das heißt, sie besitzen einen
wasserabstoßenden und einen wasseranziehenden Teil.
Gibt man Lipide in Wasser, dann lagern sie sich so zusammen,
dass nur die wasseranziehenden Teile nach außen, eben
Richtung Wasser zeigen. Auf diese Weise entstehen z.B.
Doppelschichten, also dünne Membranen.
Sprecherin: Die Membranen können sich
wiederum zu kleinen Bläschen schließen,
sogenannten Vesikeln. Und mit diesen 10 bis 100 Mikrometer
großen geometrischen Körpern experimentieren
Rumiana Dimova und ihre Mitarbeiter.
Wir manipulieren sie mit Pipetten. Hier sehen Sie
eine Glaspipette mit 10 Mikrometern Durchmesser, eine
Kapillare. Sie können die Vesikel hineinsaugen. Sie
können messen, wie elastisch sie ist, wie leicht es
ist, die Membran zu verformen. Wenn wir dann die
Eigenschaften kennen, machen wir es komplizierter, indem wir
verschiedene Moleküle in die Membran einsetzen, z.B.
Proteine. Dadurch wird die Membran echten Zellmembranen
immer ähnlicher.
Sprecher: Denn darum geht es den
Wissenschaftlern in Golm unter anderem: sie wollen wissen,
wie die komplexen Strukturen von natürlichen Membranen
zustande kommen. Jede tierische oder menschliche Zelle ist
in eine solche Membran eingeschlossen. Membranen unterteilen
außerdem das Innere der Zellen. Und auch die
Wechselwirkung von Zellen und ihrer Umgebung geschieht
über Membranen. Etwa indem Vesikeln mit chemischen
Botenstoffen andocken - quasi als kleine
Transportbehälter.
Sprecherin: In der merkwürdigen Welt der
Membranen kommen aber nicht nur Kugeln, Zylinder, Ringe und
ähnliches vor. Die Formen, mit denen sich Ulrich
Schwarz in Golm befasst, sind noch ein ganzes Stück
komplizierter. Es handelt sich um sogenannte
Flächenkristalle. Normalerweise ist ein Kristall aus
Teilchen aufgebaut, also Atomen oder Molekülen, die in
einem regelmäßigen Gitter angeordnet sind. Doch
ein Flächenkristall besteht - wie der Name schon sagt -
aus einer Fläche. Diese vielfach gekrümmte
Fläche hat aber wiederum eine periodische
dreidimensionale Struktur.
Beim einfachsten Beispiel stellt man sich vor, dass
man viele Kugeln nimmt und stapelt. Man könnte Orangen
nehmen und die Orangen erst einmal auf dem Tisch auslegen.
Und dann immer in die Mulden, die zwischen drei Orangen sich
bilden, dann eine neue Orange legen.
Sprecherin: Allerdings bekommt man nach diesem
Rezept erst einmal nur eine Menge sauber geschichtete
Kugeln.
Als nächsten Schritt muss ich jetzt alle
Kugeln zu einer Fläche verbinden. Und dazu gehe ich
immer an die Punkte, wo sich zwei Kugeln berühren,
schneide da auf jeder Seite ein kleines Loch aus und stecke
soz. eine Röhre, die die beiden Löcher verbindet,
da durch. So dass ich jetzt mit zylinderförmigen
Elementen die Kugeln verbinde. Und dann kriege ich am
Schluss eine Struktur, eine Fläche, alles ist
durchgängig, wo ich immer von einer
zylinderförmigen Struktur zu einer kugelförmigen
Struktur komme, dann wieder über eine
zylinderförmige zur nächsten kugelförmigen
Struktur gehe. So kann ich den ganzen Raum durchqueren,
immer auf der gleichen Fläche.
Sprecherin: Um so einen Flächenkristall zu
erhalten, müssen die Forscher aber nicht kleinste
Bläschen stapeln und sie anschließend
aufschneiden. Es reicht, Wasser und ein Lipid
zusammenzubringen. Bei der richtigen Lipidkonzentration und
einer bestimmten Temperatur entstehen dann solche Strukturen
von selbst.
Sprecher: Auch in der Natur gibt es
Flächenkristalle. Etwa das endoplasmatische Retikulum,
ein größerer Membrankomplex in lebenden Zellen.
Er besteht aus einem System von winzigen Röhren, die
sich an Kreuzungspunkten treffen. Aber die Wissenschaftler
sind auch stark an künstlichen Flächenkristallen
interessiert. Z.B. wenn sie die Form von Proteinen
untersuchen wollen. Dazu müssen sie die Proteine
kristallisieren.
Proteinkristallisation ist für viele Proteine
sehr schwierig und ungelöst. Aber eine neuartige
Entwicklung ist, dass man eben diese Flächenkristalle
im Reagenzglas herstellt, so wie sie im Prinzip auch in der
Zelle vorhanden sind, und dann darin die Proteine
kristallisiert und so die Strukturaufklärung für
Proteine vorantreiben kann.
Sprecherin: 4. Fraktale
Ähm, Fraktale?
Sprecherin: Tja, dazu schweigt Euklid, denn mit
diesen Strukturen beschäftigt man sich erst seit
relativ kurzer Zeit. Den Namen Fraktale gibt es sogar erst
seit rund 25 Jahren.
Meine Damen und Herren, wir erreichen jetzt
Hannover.
Sprecher: Vom riesigen Fabrikgelände der
Continental AG, die unter anderem Reifen und Gummiprodukte
herstellt, bekommt man kaum etwas zu sehen, wenn man die
Werkstoff-Forscher besucht. Ihre Arbeitsräume liegen
nämlich direkt an einem der Fabriktore.
Sprecherin: Bei Conti erfährt man, dass es
in der Welt kleinster geometrischer Strukturen nicht immer
so schön regelmäßig zugeht, wie sich das
Platon, Archimedes und Co. vorgestellt haben. Die Dinge sind
nun mal nicht nur aus Hexagonen oder Oktaedern aufgebaut
oder sehen aus wie glatte Kugeln oder Zylinder. Es gibt zum
Beispiel Kettenmoleküle, die wirken wie achtlos
verknäult; und Partikel, die eine irreguläre,
völlig zerklüftete Oberfläche besitzen.
Sprecher: Die Materialforscher der Continental
AG haben permanent mit beidem zu tun. Denn es spielt eine
entscheidende Rolle in Gummimischungen für Reifen.
Sprecher: Unablässig zieht die
Prüfmaschine 24 schmale Gummistreifen in die
Länge. 100 Mal pro Minute werden sie kräftig
gedehnt. An jedem Streifen läuft ein kleiner
Zähler mit - solange bis das Gummi reißt. Die
Ingenieure wollen herausfinden, wie belastbar die
unterschiedlichen Gummimischungen sind, die sie kreieren.
Sprecherin: Viele der Gummi-Eigenschaften werden
dadurch bestimmt, auf welche Weise die verknäulten
Kautschuk-Moleküle, die Polymere, mit Füllstoffen
- meistens besonderen Rußpartikeln - zusammenspielen.
Hier setzen Spezialisten wie Gert Heinrich an, um Autoreifen
zu verbessern.
Man möchte möglichst ein Material haben,
also einen Reifen mit einem Material in der Lauffläche,
die einen niedrigen Rollwiderstand hat. Neueste
Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass es hier sehr
wichtig ist, eine sehr intensive Wechselwirkung zwischem dem
Polymersystem in dem Material und dem
Füllstoffgefüge möglichst auf den
nanoskaligen und mikroskopischen Längenskalen zu
erzeugen.
Sprecher: Und diese Wechselwirkung ist davon
abhängig, wie die Oberfläche der
Füllstoff-Partikel aussieht. Da diese Oberfläche
sehr unregelmäßig ist, kommen die Conti-Forscher
mit normaler Geometrie à la Euklid nicht weiter. Sie
müssen für ihre Berechnungen auf fraktale
Geometrie umsteigen.
Sprecherin: Um irreguläre Strukturen zu
beschreiben, arbeitet die fraktale Geometrie mit gebrochenen
Dimensionen. Der Begriff Dimension wird dabei allerdings
anders verwendet, als wir ihn normalerweise kennen. Der Wert
der Dimension gibt hier an, wie zerklüftet ein Partikel
ist. Erst vor kurzem wurden diese Werte für die
Spezial-Ruße ermittelt.
Man hat herausgefunden, dass die sogenannte
fraktale Oberflächen-Dimension von Rußen einen
Wert annimmt, der zwischen den glatten Dimensionen zwei und
drei liegt. Zwei wäre praktisch eine glatte
Oberfläche und drei wäre schon wieder ein
voluminöses Gebilde. Je höher dieser Wert ist, je
irregulärer also diese Oberfläche dieses
Füllstoffes Ruß z.B. ist, umso besser können
dann die Polymere an diese Oberfläche andocken,
können eine festere
Polymer-Füllstoff-Wechselwirkung ausprägen.
Sprecher: Dementsprechend verändern sich
die Eigenschaften eines Reifens. Dass eine solch intensive
Wechselwirkung zustande kommt, liegt auch daran, dass die
Kautschuk-Polymere ebenfalls eine ganz
unregelmäßige Struktur haben. Diese Struktur
untersuchen die Conti-Forscher gemeinsam mit
Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für
Polymerforschung in Mainz.
Sprecherin: Polymere, wie z.B. die Kunststoffe
Polyethylen und Polypropylen, bestehen aus vielen einzelnen
Grundmolekülen, die sich zu langen Ketten verbinden.
Doch die Ketten sind nicht etwa gerade gestreckt.
Max-Planck-Forscher Thomas Vilgis:
Wenn Sie sich einen völlig Betrunkenen
vorstellen, der von A nach B gehen möchte und das aber
nicht mehr kann in einem gerichteten Weg, sondern einfach so
betrunken ist, dass er den nächsten Schritt
ausführt ohne sich zu erinnern an die Richtung des
vorhergehenden Schritts, bekommen Sie einen völlig
zufälligen Weg zwischen diesen Punkten. Und so kann man
sich das etwa vorstellen: die Gestalt dieser Polymere ist
eben auch sehr irregulär, sehr zufällig.
Sprecherin: Und das kommt daher, dass die
einzelnen Monomere, die Grundmoleküle, die die Kette
bilden, frei drehbar sind.
Sprecher: In welche Richtung sie zeigen, wenn
sie sich zu einem Polymer zusammenfügen, hängt von
Stößen ab, die sie von den
Flüssigkeitsmolekülen in ihrer Umgebung erhalten.
Diese Moleküle führen absolut zufällige
Zitterbewegungen aus. Man spricht von Brownscher Bewegung.
Sprecherin: Auch die Natur kennt Polymere, z.B.
Proteine. Hier sind die Formen allerdings nicht
zufällig. Proteine müssen eine bestimmte Gestalt
haben, damit sie eine korrekte biologische Funktion
erfüllen können.
Sprecher: Der Trick der Natur ist, dass sie die
Ketten nicht aus einer einzigen Art von Molekülen
bildet, sondern aus ganz unterschiedlichen, nämlich
verschiedenen Aminosäuren. Einige dieser
Aminosäuren sind wasserlöslich, andere hingegen
wasserunlöslich. Sie hängen in einer ganz
bestimmten Sequenz, also Abfolge aneinander, was die Form
entscheidend beeinflusst.
Nun ist es genau das, was man vorher bei diesen
synthetischen Polymeren nicht hat, dass diese Polymere im
wesentlichen in sehr grober Näherung eine Kugelgestalt
haben, wo einfach diese wasserunlöslichen Bestandteile,
die Monomere alle im Inneren dieser Kugel angeordnet sind
und alle wasserlöslichen Bestandteile an der
Oberfläche diese Kugel angeordnet sind, einfach
deshalb, weil dieses Protein sich in Wasser, sprich in
physiologischer Kochsalzlösung lösen muss im
biologischen System. Dort hat es die Natur tatsächlich
geschafft, diese Vielzahl von diesen fraktalen Strukturen zu
überlisten für lange Moleküle, indem sie
bestimmte Sequenzen herausgebildet hat, die es einfach
erlauben, dass dieses Protein in eine bestimmte Konformation
geht und das ist eine kompakte Kugelgestalt.
Sprecherin: Es gelingt der Natur hier so etwas
wie ein Übergang von der fraktalen zur uns vertrauten
euklidischen Geometrie. Jener Geometrie der Flächen,
Vielecke und Kugeln, mit der schon die griechischen
Philosophen und Wissenschaftler die Welt beschreiben und
erklären wollten.
Sprecher: Hexagone für photonische
Kristalle, Oktaeder und andere platonische Körper
für Nanoobjekte, Kugeln, Zylinder und ähnliches
bei der Erforschung von Zellstrukturen.
Möge keiner, der nicht der Geometrie kundig
ist, hier eintreten.
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